05.06.18, NZZ
Tagesschulen ermöglichen, nicht verordnen
Das Kantonsparlament setzt bei den Tagesschulen auf Freiwilligkeit und Wahrung der Gemeindeautonomie
Der Kanton Zürich erhält erstmals eine gesetzliche Grundlage für die Schaffung von Tagesschulen. Dabei haben die Gemeinden viel Gestaltungsfreiheit. Im Kantonsrat gefällt das nicht allen.
Walter Bernet
Die Tagesschulen sind nicht nur Thema der Stadtzürcher Abstimmung vom 10. Juni, sondern haben am Montag auch den Kantonsrat beschäftigt. Bisher gab es im Kanton Zürich nämlich gar keine gesetzliche Grundlage für die Schaffung solcher Einrichtungen; das Volksschulgesetz verbietet sie zwar nicht, erwähnt sie aber mit keinem Wort. Das soll nun geändert werden. Im Wesentlichen geht es um eine knappe Ergänzung des Gesetzes mit einem Abschnitt über Tagesstrukturen, der auch Bestimmungen über die Tagesschulen enthält. Das Ergebnis der Beratung in der kantonsrätlichen Kommission für Bildung und Kultur (KBIK): einstimmige Annahme.
Opposition der SVP
Trotzdem hat die SVP-Fraktion am Montag den Antrag gestellt, auf die Vorlage gar nicht einzutreten. Die Begründung von Matthias Hauser (Hüntwangen) fiel knapp aus: Die Partei sieht keinen Grund für ein Obligatorium über Mittag, auch wenn man sich auf Wunsch trotzdem abmelden kann. Diese Freiwilligkeit könne bedeuten, dass man in eine andere Schule inner- oder ausserhalb der Gemeinde wechseln müsse, wenn man sich abmelde. Generell sei jede Ausdehnung staatlichen Einflusses in der Schule abzulehnen. Hans-Peter Amrein (svp., Küsnacht) wollte gar den Anfängen einer «sozialistischen Schulpolitik» wehren, indem er die Tagesschule mit der staatlich organisierten Ganztagesbetreuung der DDR verglich. Deren Kosten hätten wesentlich zum wirtschaftlichen Ruin der DDR beigetragen. Um es vorwegzunehmen: Nicht einmal die EDU wollte so konservativ sein. Der Rat beschloss mit 114 zu 51 (SVP-)Stimmen Eintreten auf die Vorlage.
Es ist das erste Gesetz, das Bildungsdirektorin Silvia Steiner von Anfang an mitgestaltet hat. Es öffnet den Raum zur Ausgestaltung bewusst sehr weit, damit auch kleinere Gemeinden massgeschneiderte Lösungen entwickeln können. Platz hat darin das zurzeit erprobte Stadtzürcher Modell ebenso wie Modelle, die sich nicht sehr stark vom herkömmlichen Nebeneinander von Schule und Hort unterscheiden. Grundsätzlich sollen Tagesschulen Unterricht und Betreuung verbinden und dieses Paket an mehreren Tagen pro Woche anbieten. Das Angebot muss aber freiwillig sein, vor allem die Betreuung über Mittag. Letztere kann zwar für obligatorisch erklärt werden. Nur dann können die Mittagspausen verkürzt werden. Die Eltern müssen aber einverstanden sei – oder eine Alternative wählen.
Gerade diese Breite der Möglichkeiten stiess auch auf Kritik. So fand Edith Häusler (gp., Kilchberg) zwar, es gelte jetzt, das vorliegende Konzept zum Fliegen zu bringen. Trotzdem hielt sie den im Gesetz verwendeten Begriff Tagesschule für «gewöhnungsbedürftig», weiche er doch vom auf Bundesebene gebräuchlichen ab. Sie hätte von EDK-Präsidentin Silvia Steiner mehr Einsatz für eine einheitliche Begrifflichkeit erwartet.
Nicht zum ersten Mal war es die AL, die den Gottesdienst neben der SVP wirklich störte. Judith Stofer (Zürich) beklagte, dass die Stadt Zürich die einstige Vorreiterrolle ihrer fünf Tagesschulen preisgegeben habe. Jetzt drohe die definitive Verwässerung. Zur echten Tagesschule gehöre ein ganztägiges Angebot mit Betreuung und Unterricht nach gleichem Konzept, das für alle obligatorisch sei. Unterstützung bei den Hausaufgaben, Ämtchen, freie gemeinsame Zeit, Ausflüge und Ähnliches gehörten dazu. Nur so erreiche die Tagesschule ihr wichtigstes Merkmal, die Stabilität, und nur so könne Gemeinschaft entstehen. Eine Tagesschule ohne obligatorische Betreuung am Mittag sei keine Tagesschule; der Begriff Tagesstruktur im Gesetz hätte dafür gereicht. Stofer beantragte, die Vorlage an die Regierung zurückzuweisen, scheiterte aber deutlich mit 55 zu 106 Stimmen.
Trotz dieser Kritik wird die Gesetzesänderung in der Schlussabstimmung in einigen Wochen eine deutliche Mehrheit erreichen. Sie scheint ein tragfähiger Kompromiss zu sein. Für Sylvie Matter (sp., Zürich) ist sie «keine Pionierarbeit, nichts Radikales». Eigentlich kämpfe die SP – wie die AL – für eine Ausdehnung der Blockzeiten bis in den Nachmittag hinein. Die vorliegende Änderung sei aber ein «Trippelschrittchen in die richtige Richtung».
Cäcilia Hänni (fdp., Zürich) erklärte den langfristigen Erfolg der Volksschule damit, dass sich diese immer wieder den gesellschaftlichen Veränderungen angepasst habe. Heute sei die Berufstätigkeit beider Eltern nicht mehr wegzudenken. Im Frühbereich sei es bereits selbstverständlich, dass die Kinder einige Tage fremdbetreut würden. Die Gesetzesänderung schaffe nun neue Chancen und Möglichkeiten, auf diese Bedürfnisse zu reagieren. Auch Christoph Ziegler (glp., Elgg) fand, bedarfsgerechte Strukturen gehörten zu einem modernen Kanton. Das schlanke Gesetz sei gelungen, weil es auf Zwang verzichte und die Gemeindeautonomie gewährleiste. Das Gesetz allein genüge allerdings nicht; es brauche zusätzliche Anreize, damit es auch umgesetzt werde. Als «salomonischen Weg zwischen Tagesschul-Turbos und Tagesschul-Verhinderern» bezeichnete Hanspeter Hugentobler (evp., Pfäffikon) die Vorlage. Sie ermögliche Tagesschulen, verordne sie aber nicht, lobte Corinne Thomet (cvp., Kloten).
Der Kompromiss hält
Hans Egli (edu., Steinmaur) sprach sich zwar für die Gesetzesänderung aus, beantragte aber, dass den Eltern die Vollkosten der Verpflegung verrechnet werden sollen. Eine etwas mildere Variante schlug Rochus Burtscher (svp., Dietikon) vor. Er verlangte die Erhebung von Elternbeiträgen an die Verpflegung. Beide unterlagen aber mit 106 zu 56 beziehungsweise 105 zu 55 Stimmen. Die Ratsmehrheit wollte die Regelung auch hier den Gemeinden überlassen.
Auch ein Antrag von AL und SP, die Verkürzung der Mittagspause als Möglichkeit auszuschliessen, scheiterte mit 131 zu 36 Stimmen bei 2 Enthaltungen in der SP-Fraktion klar. Das sei absurd, reine Arbeitsbeschaffung für Betreuungspersonal, sagte Cäcilia Hänni (fdp., Zürich). Knapper, mit 93 zu 70 Stimmen, wurde ein Antrag von CVP, SVP, EVP und GLP abgelehnt, der die Bestimmung zum Tagesschulbesuch in einer anderen Gemeinde streichen wollte. Mit der Einwilligung beider Gemeinden wird ein solcher künftig allen Schülerinnen und Schülern offenstehen; das Schulgeld muss die Wohngemeinde berappen. Corinne Thomet wollte nicht einsehen, warum man ausgerechnet hier in die Gemeindeautonomie eingreife. «Was, wenn eine der Gemeinden nicht mitmacht?», fragte sie. Hanspeter Hugentobler befürchtete, die Regelung werde Anlass zu vielen Rechtsverfahren geben. Beide konnten die Mehrheit nicht überzeugen.