Votum zum Postlat 185 Jahre Ustertag
Zwei Seelen in meiner Brust
Sehr geehrte Frau Ratspräsidentin, Geschätzte Frau Bildungsdirektorin, Kolleginnen und Kollegen.
Als Historikerin, die mit Akten arbeitet, die für Gerichtsprozesse verfasst wurden, die hier, in diesem Haus beraten wurden, kann ich wohl kaum etwas dagegen haben, dass die Geschichte der Schweiz und des Kanton Zürichs stärker in die obligatorische Schulbildung einfliesst und die Entstehung der Demokratie den Schülerinnen und Schülern näher gebracht wird.
Liest man den Titel, sieht man dass den Postulaten der Ustertag als Unterrichtsinhalt vorschwebt. Nun: Die anwesenden Kantonsrätinnen und Kantonsräte aus Horgen, Wädenswil oder auch Affoltern am Albis werden einwerfen, dass in diesem Zusammenhang auch der Bockenkrieg nicht vergessen werden darf und von der gegenüberliegenden Seeseite wird man wohl den Stäfnerhandel vorbringen.
Aber sind wir ehrlich: Man kann die Entstehung der Demokratie nicht erst ab der Revolution unterrichten. Wie sollen die Schülerinnen und Schüler verstehen, warum man, insbesondere auf dem Land, immer wieder Versuche unternahm das bestehende System zu verändern, wenn sie das Ancien Regime nicht kennen? Wenn sie nicht wissen, wie unsere Amts-Vorgänger in engster Zusammenarbeit mit der Kirche den Stadtstaat Zürich und sein Untertanengebiet beherrschten. Wie soll man erklären, welche Errungenschaft die Gewaltenteilung war, wenn man nicht erklärt, wie zuvor an dieser Stelle hier die gleichen Personen Gesetze erliessen, regierten und Gerichtsurteile fällten, wie zum Beispiel die Todesstrafen über 79 angebliche Hexen. Und wie soll man die Verfassung im Ancien Regime begreifen ohne Rudolf Brun und wie soll man Rudolf Brun verstehen ohne… – nun, Kolleginnen und Kollegen ich könnte diese Reihe weiter führen, zurück bis zu Divico, aber ich denke alle haben begriffen worauf das hinaus läuft.
Und: Die Entstehungsgeschichte der Demokratie endet nicht 1830. Auch der reaktionäre Züriputsch ist ein Teil dieser Geschichte, genau wie die Landsgemeinden 1867 und die daraus resultierende radikale Verfassung von 1869 aber auch der Tonhallekrawall oder der Italienerkrawall gehören in diese Thematik. Und vergessen wir nicht das 20. Jahrhundert, mit dem Zürcher Generalstreik, der Einführung des Proporz, den Ereignissen von 1918 und die Dauerbesetzung von Zürich durch die Armee auf Anordnung von Ulrich Wille.
Nun bin ich noch nicht mal in den 20er des 20. Jahrhundertes angekommen, habe die Kantonsgrenzen noch nicht überschritten, geschweige denn die Landesgrenzen, denn auch diese zu überschreiten ist notwendig, denn die Schweiz war und ist keine Insel auch wenn uns das die geistige Landesverteidigung denken lassen wollte – ein weiteres Thema das nicht vergessen werden darf.
Nun haben wir also schon in den 20er des 20. Jahrhunderts ein riesen Bündel an Themen zusammen und es sind nicht mehr viele Geschichtslektionen übrig um alles andere auch noch zu bearbeiten, das auch noch wichtig wäre und unbedingt auch noch in den Geschichtsunterricht gehört. Kolleginnen und Kollegen ich verspreche euch, wenn mir meine Redezeit verdoppelt wird, müssen wir die Geschichtslektionen nachher verdreifachen: Ihr könnt euch die Historikerin in mir grade freudig hüpfend vorstellen.
Doch ach, es wohnen zwei Seelen in meiner Brust und die Politikerin in mir muss dem Treiben der Historikerin laut Einhalt gebieten: Wir sind nicht der Bildungsrat der Lehrplan, grundlegende Inhalte des Unterrichts und Stundentafel erlässt und wir sind nicht die Lehrpersonen, die dafür ausgebildet sind, auf Grundlage dieser Regelungen ihren Unterricht zu planen und aus den viel, zu vielen möglichen Inhalten die für ihre Klasse und ihren Unterrichtsort Richtigen auszusuchen. Wir sind der Kantonsrat und dieses Postulat ist hier am falschen Ort – abgesehen davon, dass die Zielsetzung des Postulates – man kann es der Antwort des Regierungsrates entnehmen – bereits im jetzt eingeführten Lehrplan erreicht ist. Wir lehnen dieses Postulat ab.